Der Dialekt meiner Großeltern

Während man sich beim Versuch, die Bedeutung und Verbreitung von Familiennamen zu erklären und darzustellen, noch auf vergleichsweise sicherem Boden bewegt, ist die Beschreibung und Zuordnung der von unseren Vorfahren ge­spro­chenen Dialekte ungleich komplizierter. Gründe gibt es dafür mehrere. Einmal fällt dem aufmerksamen Zuhörer auf, dass es selbst zwischen nur wenige Kilometer voneinander entfernt liegenden Dörfern bereits feine Un­ter­schiede im Di­a­lekt gibt bzw. geben kann. Auf der regionalen und überregionalen Ebene weiten sich diese Un­ter­schiede so aus, dass beispielsweise ein dem Stuttgarter Schwäbisch verhafteter Zeitgenosse das Schwäbisch eines Augsburgers unter Umständen nur noch mit Mühen versteht. Der im Bereich des Hoch­a­le­man­ni­schen lebende Basler tut sich - wie von mir selbst erfahren - sehr schwer, den ebenfalls noch hoch-a­le­man­nischen Di­a­lekt eines Be­woh­ners aus dem Goms (an der Grenze zu Italien) zu verstehen. Ein weiteres Problem selbst für die wis­sen­schaft­liche Di­a­lektforschung liegt darin, dass sich die Di­a­lekte – wie alle Sprachen – im Zeitablauf ständig verändern. Meine Großeltern be­nutz­ten für die Bezeichnung von Gegenständen, Zuständen oder Ver­hält­nis­sen noch Di­a­lektausdrücke, die inzwischen nicht mehr gebräuchlich sind und von einem/einer heute 20jährigen Mit­bür­ger/­Mit­bür­ge­rin nicht mehr zu­ge­ord­net werden können.

Die Erforschung von Di­a­lekten bzw. Mundarten und deren Verbreitung macht dennoch nach wie vor Sinn. Der Di­a­lekt schafft Idendität, vermittelt vielen Menschen ein Zu­ge­hö­rig­keitsgefühl und stärkt damit zugleich deren Selbstwertgefühl. Persönlich habe ich es immer als hilfreich empfunden, wenn ich mich bei Gesprächen mit Studienkollegen aus dem Schwäbischen auf einen Di­a­lektbegriff stützen konnte, für den es im Schriftdeutschen kein Äquivalent gibt. Dass man zur Wahrnehmung gehobener Bildungschancen und für viele berufliche Karrieren außer dem Di­a­lekt auch das Schriftdeutsche beherrschen sollte, mag in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben.

Die heutigen Di­a­lektforscher, die sich mit den in Süd­west­deutsch­land und der deutschsprachigen Schweiz ge­spro­chenen Di­a­lekten befassen, nehmen als Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen gerne auf die Di­a­lekte bzw. die Sprache Bezug, die von den vom zweiten bis zum fünften Jahrhundert allmählich in Süd­west­deutsch­land und der Nordschweiz und darüber hinaus sich ausbreitenden Alemannen ge­spro­chen wurden, so vor allem Klausmann, Kunze und Schrambke in ihrem "Kleinen Di­a­lektatlas – A­le­man­nisch und Schwä­bisch in Baden-Württemberg", Bühl, 1994. Danach sind sowohl das Schwäbische als auch das (heutige!) A­le­man­nisch ursprünglich a­le­man­nische Mundarten. Der Sied­lungs­be­reich der Alemannen läßt sich – mangels schriftlicher Zeugnisse – heute noch am ehesten durch die von den Archäologen belegten Grä­ber­fun­de nachweisen (siehe Abbildung 1)

Abbildung 1: A­le­man­nische Reihengräber in Südwestdeutschland

Abbildung 1: Alemannische Reihengräber in Südwestdeutschland
Quelle: Klausmann, Kunze, Schrambke, Kleiner Dialektatlas – Alemannisch und Schwäbisch in Baden- Württemberg, Bühl 1994 (nach Steger)

In den Vorbemerkungen zu diesem Band heißt es: "A­le­man­nisch, wozu auch das Schwäbische zählt…, wird von den Vogesen bis zum Lech, von den Alpen bis zum Hesselberg ge­spro­chen, das heißt, in Teilen von sechs Ländern Europas: in Österreich, Liechtenstein, Italien, der Schweiz, Frankreich und Deutschland." (S. 11). Und weiter wird auf Seite 17 dieses Bandes vermerkt: "Das A­le­man­nische hat sich aus der Sprache eines Stammesverbandes entwickelt, zu dem sich gegen Ende des zweiten Jahrhunderts einige germanische Heer- und Wanderhaufen, zum größten Teil Sueben, in der Maingegend zusammengeschlossen hatten, die aus ihrer vorigen Heimat an der Elbe abgewandert waren." Diese lose verbundenen Stammesgruppen oder Verbände sprachen sicherlich Di­a­lekte, die einander verwandt waren. Deren Abgrenzung läßt sich mangels schriftlicher Zeugnisse heute nicht mehr nachvollziehen. Vor allem ist nicht mehr erkennbar, inwieweit diese Di­a­lekte bereits auf Di­a­lekten der keltischen Vorgänger-Bevölkerung oder auf lateinische Einflüsse des um die Zeitenwende in Süd­west­deutsch­land und der Schweiz noch in Ausdehnung befindlichen Römischen Weltreichs beruhten. Die Ver­flech­tun­gen mit Rom waren bereits zu Beginn unserer Zeitrechnung nicht gering: der dem im Weserbergland be­hei­ma­te­ten Stamm der Cherusker an­ge­hö­ren­de Heerführer Arminius, der uns aus der Schlacht im Teutoburger Wald im Jahre 9 n. Chr. bekannt ist, war ein in Rom ausgebildeter römischer Offizier – was auf Kooperationen mit Rom selbst auf militärischem Gebiet schließen lässt.

Trotz zahlreicher regionaler Un­ter­schiede werden das Schwä­bi­sche und das A­le­man­nische (im heutigen Sinn) von den Di­a­lektforschern heute als diejenigen Di­a­lektgruppen eingestuft, die von ihren Wurzeln her auf die Zeit der a­le­man­nischen Besiedlung Süd­west­deutsch­lands und der nördlichen Schweiz zurückgeführt werden können. Das - grob eingeteilt - im Bereich Mittlerer Neckarraum – Schwarzwaldschranke - östlicher Bodensee – Lech ge­spro­chene Schwäbisch wurde dabei bis in die Gegenwart hinein von zahlreichen Forschern genau so "durchleuchtet" wie das (seit Johann Peter Hebels "A­le­man­nischen Gedichten" aus dem Jahr 1802) so bezeichnete A­le­man­nisch an Oberrhein, Hochrhein, westlichem Bodensee und in der deutsch­spra­chi­gen Schweiz. Hinzu kommt für den Norden Baden-Württembergs der historisch relativ einfach zu begründende fränkische Di­a­lekt.

Alle drei Di­a­lektgruppen lassen sich nicht strikt von einander trennen. Vielmehr gibt es - wie von den Di­a­lektforschern mehrfach nachgewiesen – mehr oder weniger breite "Ü­ber­lap­pungs­zo­nen", in denen Elemente der benachbarten Di­a­lekte mehr oder weniger häufig anzutreffen sind. Selbst die aufgrund der naturräumlichen Gegebenheiten ent­stan­de­ne "Schwarzwaldschranke" zwischen dem Schwäbischen im Osten und dem (heutigen) A­le­man­nisch im Westen ist davon nicht ausgenommen. Außerdem kann nicht übersehen werden, dass es auch heute noch Di­a­lekt-Ausdrücke gibt, die aufgrund der verwandtschaftlichen Nähe der Di­a­lekte sowohl in der deutschsprachigen Schweiz als auch in Baden-Württemberg gut verstanden werden. Als Beispiel sei hier auf die Fragestellung "wo bisch(t)", d. h. "wo bist du" verwiesen.

Der nördliche Schwarzwald – die Heimat meiner Vorfahren – ist ein besonders ausgeprägter "Überlappungsbereich", weil hier nicht nur schwäbische und a­le­man­nische Di­a­lektelemente ge­spro­chen werden, sondern auch fränkische. Dies zeigt besonders die von Hubert Klausmann verfasste und 2020 erschienene Veröffentlichung "Kleiner Sprachatlas von Baden-Württemberg", Stuttgart, Speyer, Basel 2020 und hier als Abbildung 2 eingefügte Einteilung der südwestdeutschen Dialektlandschaften (a.a.O., Seite 24).

Das Gebiet zwischen Nagold- und Murgtal mit den Ausläufern des nördlichen Schwarzwaldes hat die Di­a­lektforscher schon vor über 100 Jahren insofern fasziniert, als hier westschwäbische, niedera­le­man­nische und südfränkische Sprachelemente "dicht" neben einander anzutreffen waren und sind. Grundlage der Nachforschungen war und ist meist die Bezeichnung wichtiger Alltagsbegriffe, wie sie vor allem bei der älteren Wohnbevölkerung in den Gemeinden gebräuchlich waren und sind (so auch bei Klausmann als Basis für seinen "Kleinen Sprachatlas..."). Der Mundartforscher Karl Bohnenberger schrieb bereits im Jahr 1905 über das Gebiet westlich der Enz: "Die Aufteilung der Volkssprache Württembergs an das Schwäbisch-Niedera­le­man­nische und das Fränkische vollzieht sich heute zumeist nicht in scharfer Spaltung, sondern in manchfacher Abstufung mit Übergangsformen und Grenzstreifen" (zitiert nach Klausmann, Kunze u. a., Seite 118). Von eindeutigen Sprachgrenzen kann im Nordschwarzwald deshalb bis heute nicht ausgegangen werden. Als Hintergrund sind nach Auffassung der Sprach- und Geschichtsforschung sehr wahrscheinlich die historischen Gegebenheiten einzustufen, wie sie bereits vor über 1600 Jahren und bis weit in das Mittelalter hinein in diesem Gebiet vorgeherrscht haben.

Abbildung 2: Die südwestdeutsche Dialektlandschaft

Abbildung 2: Die südwestdeutsche Dialektlandschaft

Maßgeblich dürfte vor allem sein, dass gegen Ende der sogenannten "Völkerwanderung" um 600 n. Chr. die zuvor am Niederrhein siedelnden Franken – wie die Alemannen ein Stammesgemisch von einem guten Dutzend Stämmen – in den Norden des heutigen Landes Baden-Württemberg einsickerten. In den Jahren 496/97 (bei Zülpich nahe Bonn) und 506 (nahe Strasbourg) kam es nachweislich zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Alemannen und Franken, bei denen die Alemannen jeweils unterlagen. Die Franken setzten sich danach in einem Gebiet fest, das in etwa nördlich einer gedachten Linie zwischen Baden-Baden und Crailsheim festzumachen ist. Die Abgrenzung zwischen den Stammesherzogtümern Schwaben mit dem Schwerpunkt Bodensee/St. Gallen und Franken verlief später genau so entlang dieser "Linie" wie die Grenze zwischen den Bistümern Konstanz und Speyer. Die Klöster Hirsau, Herrenalb, Frauenalb und Lichtental (Baden-Baden) gehörten über Jahrhunderte hinweg zum (rheinfränkischen) Bistum Speyer. Nachhaltige fränkische Spracheinflüsse im nördlichen Oberrheingebiet und im Nordschwarzwald konnten von daher nicht ausbleiben. Die Di­a­lektlandschaft erhielt dadurch wahrscheinlich eine dauerhafte Prägung.

Ein Einfluss der beiden Fürstentümer Baden und Württemberg auf die Di­a­lektlandschaft im heutigen Baden-Württemberg ist nicht zu erkennen. Gemessen an den Forschungsergebnissen der Di­a­lektforscher gibt es weder einen württembergischen noch einen badischen Di­a­lekt! Die regionale Bedeutung und der Gebietszuschnitt der beiden Fürstentümer hat zwar seit dem 12./13. Jahrhundert ständig zugenommen. Gegen Ende des Feudalzeitalters im Jahr 1918 waren sie sogar zu den dominierenden Gebietskörperschaften im Südwesten aufgerückt. Dies haben sie allerdings allein "Kaiser" Napoleon zu verdanken, der nach der Niederlage der deutschen Kleinstaaten in den Jahren 1803/1806 das Königreich Württemberg und das Großherzogtum Baden "schuf". Beide kamen dadurch zu beachtlichen Gebietausweitungen. Noch 1803 mussten sich Baden und Württemberg das heutige Land Baden-Württemberg mit über 70 weiteren, weltlichen und geistlichen Territorien teilen. Dennoch hat sich auch die Bevölkerung der zuvor nicht badischen oder württembergischen Gebiete relativ rasch mit den neuen Gebietsbezeichnungen bis in die Gegenwart hinein identifiziert. Da die meisten Menschen zur Orientierung und Identifikation überschaubare Größen brauchen, ist es auch im Zeitalter der Globalisierung und der europäischen Vereinigung niemand zu verdenken, wenn er sich immer noch vor allem als Badener oder Württemberger versteht. Mit der Aufgliederung Süd­west­deutsch­lands in un­ter­schiedliche Di­a­lekte hat dies allerdings nichts zu tun!

Meine ganz persönlichen Erfahrungen mit den von meinen Vorfahren im Nordschwarzwald ge­spro­chenen Di­a­lekten sind weder wis­sen­schaft­lich fundiert noch umfassend. Aufgefallen ist mir in meiner Jugend jedoch nicht selten, dass die Gleichaltrigen, denen ich vor allem im Fußball als Mitglied der Jugendmannschaft des VfB Conweiler bei Wettspielen begegnet bin, um so häufiger andere Begriffe für denselben Sachverhalt gebrauchten als wir, je weiter wir zu Auswärtsspielen in das obere Nagold- oder Enztal anreisen mussten: diese Begriffe waren meist eindeutig "pures" schwäbisch bzw. westschwäbisch.

Innerhalb der Familie hat mich der Di­a­lekt der Großelternteile besonders beeindruckt, die ich als Kind und Jugendlicher noch erleben durfte. Leider waren dies nur noch die Großmutter väterlicherseits und der Großvater mütterlicherseits. Beide sprachen sie ausschließlich Di­a­lekt. Für mich überraschend be­nutz­ten sie des öfteren un­ter­schied­li­che Bezeichnungen für identische Gegenstände oder Verhaltensweisen, obwohl sie nur wenige Kilometer auseinander wohnhaft waren. Bei schwülwarmer Witterung meinte meine aus Feldrennach stammende Großmutter beispielsweise, dass die Sun (a­le­man­nisch) sticht. Mein südlich davon, in den Herrenalber Bergen – nicht ganz 6 km Luftlinie entfernt - lebender Großvater sprach dagegen von der Sonna – ein eher schwäbischer Ausdruck! Meine Großmutter wünschte den Nachbarn a scheene sundich a – ganz wie dies sich etwa die Be­woh­ner des Schweizer Kantons Luzern auch heute noch wünschen, d. h. auch diese Redewendung ist eindeutig a­le­man­nisch. Großmutter bezeichnete den Keller als Kerr (ebenfalls a­le­man­nisch), während der Großvater den Begriff Keller benutzte. Bei Großmutter waren die Kartoffeln Grumbeere (südfränkisch), bei Großvater dagegen Grombiere (schwäbisch - siehe auch Abbildung 3). Wenn ich als Kind einmal zu lebhaft war, kam von Großmutter die Mahnung ruhgsch net. Großvater konnte dagegen allenfalls ein reiß de zamma von sich geben. Kletterte die Katze an einem Baum hinauf, so sprachen beide Großelternteile allerdings jeweils von de Bomm nuff. War eine (meist gute) Sache bedauerlicher Weise vorüber, so war bei Großmutter die Katz de Bach naa, bei Großvater dagegen de Bach nonder. Mit diesen ganz persönlichen Eindrücken und Erinnerungen kann auch meinerseits nur angedeutet werden, wie sehr sich im Nordschwarzwald die Di­a­lekte vermischten und überlagerten. Ob und in wie weit dies heute noch der Fall ist, bleibt der künftigen Mundartforschung überlassen.

Abbildung 3: Dialektvarianten Südwestdeutschlands am Beispiel der Kartoffel

Abbildung 3: Dialektvarianten Südwestdeutschlands am Beispiel der Kartoffel
Quelle: Klausmann, Kunze, Schrambke: Kleiner Dialektatlas..., a.a.O.